Wertschöpfung aus Störungen und Problemen
Amy Edmondson und Anita Tucker haben in der Studie „Why Hospitals don`t learn from failures“1 die Voraussetzungen für Wertschöpfung durch Organisationales Lernen in amerikanischen Kliniken untersucht. Ihre Ergebnisse sind auf andere Dienstleistungsunternehmen übertragbar, die ebenfalls unter hohem Zeit- und Kostendruck exzellente Ergebnisse für ihre Kunden liefern müssen.
In den Kliniken wurde in der Vergangenheit die Arbeitsleistung einzelner Ärzte und Schwestern als Garantie für einen hohen Qualitätsstandard gesehen. Zunehmend rückt jedoch die systematische Verbesserung der Gesamtorganisation, der Unternehmenskultur, der Strukturen und Arbeitsprozesse in den Vordergrund, um Mängel in der Versorgung der Patienten zu beheben. Nicht die Performanceleistung einzelner, sondern die Performance der gesamten Organisation gewährleistet langfristig einen optimalen Qualitätsstandard und hohe Kundenzufriedenheit.
Die Fähigkeit zum Lernen aus Fehlern und Problemen stellt einen fundamentalen Baustein für das Qualitäts- und Wissensmanagement dar. Dabei wurde in der Studie von Edmondson und Tucker deutlich, dass nicht Fehler, sondern wiederkehrende Probleme und Störungen in den Arbeitsabläufen eine besonders gewinnbringende Quelle für nachhaltige Optimierungen in den Prozessabläufen darstellen.
Fehler wurden in dem Zusammenhang als falsch oder unnötig ausgeführte Aufgaben definiert, die durch bessere Informationsflüsse hätten vermieden werden können. Probleme werden von Edmondson und Tucker als eine Störung in den aktuellen Arbeitsprozessen verstanden, die die Ausführung einer anstehenden Tätigkeit verhindern. Probleme sind deshalb besonders gute Ressourcen für Qualitätssteigerung und Prozessoptimierung, weil Mitarbeitende Probleme bewusst wahrnehmen und rückmelden können, während sie sich über gemachte Fehler oft im Unklaren sind.
Die Mitarbeiter der von Edmondson und Tucker untersuchten Kliniken hatten die Befugnis, akute Probleme nach eigenem Ermessen zu lösen. Eigenständiges, selbstverantwortliches Handeln war ein wichtiger Bestandteil der Arbeitsplatzdefinition. Doch das Verhindern von Fehler und die Reduktion von Problemen erfordern den Einsatz der leitenden Ebene.
Fehlendes organisationales Lernen führt dazu, dass dieselben Probleme immer wieder auftauchen, und stets von neuem gelöst werden müssen. Das situative Lösen der anfallenden Probleme durch einzelne Akteure funktioniert nur auf den ersten Blick gut. Langfristig führt es gerade bei den engagierten und besonders fähigen Mitarbeitern zu Frustration, Demotivation und Burnout, denn das beständige Beseitigen wiederkehrender Problemlagen kostet viel Zeit und Kraft.
Durch die Erschöpfung sinkt die Bereitschaft, beobachtete Probleme an die höhere Managementeben weiterzuleiten, wodurch die Chance auf nachhaltige organisationale Lernschritte und langfristige Lösungsstrategien vertan wird. So bleibt die Quote der latenten Fehler und Problemlagen bestehen und die Organisation verliert in der Gesamtsumme beständig Zeit, Kraft, Engagement und Qualität.
Um langfristige Veränderung zu initiieren, müssen Interventionen auf der Managementebene erfolgen. Edmondson und Tucker nennen die Stufe des organisationalen Lernen „second-order problem solving“ im Gegensatz zum „first-order problem solving“, in der die Problemlösung nur als singuläres Ereignis auftritt.
Edmondson und Tucker halten für ein „second-order problem solving“ folgende organisationale Maßnahmen für notwendig:
- Leitende Mitarbeiter sollten zeitnah für Rückmeldungen zugänglich sein: Persönliche Präsenz erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Rückmeldung über gelöste Probleme an die leitende Ebene. Mögliche oder nötige Verbesserungen in den Arbeitsprozessen können so identifiziert und umgesetzt werden.
- Die Mitwirkung der leitenden Mitarbeiter reduziert den Zeiteinsatz der Mitarbeitenden bei der Beseitigung von Störungen und führt zur schnelleren Wiederherstellung der nötigen Performance.
- Das Lösen der Problemlagen auf einer Metaebene dient als Rollenvorbild für die Mitarbeitenden und erzieht zu dem gewünschten Mindset, identifizierter Problemlagen an der Wurzel zu beheben.
- Damit organisationales Lernen auf der Metaebene möglich ist, dürfen Mitarbeitende keine Angst davor haben, für das Melden von Fehlern oder Problemen persönlich herabgesetzt oder bestraft zu werden. Das Management kann entscheidend dazu beitragen, dass Mitarbeiter das Risiko auf sich nehmen, Störungen an die vorgesetzt Eben weiter zu melden, indem sie Mitarbeitenden aktiv einladen, ihre Bedenken zu äußern. Ein extra warmherziges und freundliches Auftreten ist nicht explizit notwendig.
- Um der persönlichen Fehlbarkeit den Schrecken zu nehmen, sollten auch Vorgesetzte eigene Fehler zugeben können und mit gutem Beispiel vorangehen. Dadurch kann eine Arbeitsatmosphäre entstehen, in der Mitarbeiter sich sicher und wertgeschätzt fühlen.
(Etablierung eines „psychologically safe work environment“) - Die leitende Ebene sollte auf gemeldete Störungen zeitnah reagieren, indem Verbesserungen initiiert werden, durch die die Anzahl der regelmäßig auftauchenden Probleme nachhaltig reduziert werden. Dafür kann eine bereichsübergreifendes Zusammenarbeit notwendig sein, die einzelne Mitarbeiter allein nicht leisten können.
- Positive Veränderungen motivieren andere Mitarbeitende dazu, zum organisationale Lernen im Rahmen eines „second-order problem solving“ beizutragen. Dadurch können neue Verhaltensweisen in die Unternehmenskultur etabliert werden. Umgekehrt, wenn Rückmeldungen von Störungen keine sichtbaren positiven Veränderungen zur Folge haben, werden auch engagierte Mitarbeitende in Zukunft keine Risiken und Mühen mehr auf sich nehmen, um Problemlagen zu melden.
- Auf der Managementeben muss sich das Bild des idealen Angestellten ändern, um organisationales Lernen mehr zu fördern. Folgendes Mitarbeiterverhalten sollte in der Unternehmenskultur explizit wertgeschätzt werden: Aktives Hinterfragen von Prozessen und Routinen, Rückmeldungen an die vorgesetzte Ebene über Störungen und Probleme, Hinweise auf Missstände in der Arbeitsumgebung, Eingestehen eigener Fehler, Suchen nach Optimierungsmöglichkeiten, auch wenn alles rund läuft.
Durch die genannten Maßnahmen entstehen zusätzliche Kosten durch das Freistellen von Mitarbeitenden zur Problemlösung auf der Metaebene, Zeiten für Gruppendiskussionen, die Implementierung von Verbesserungen sowie die Weiterentwicklung von Menschen und Arbeitsroutinen.
Analysen zeigen, dass diese Extrakosten durch die langfristige Reduktion von Fehlern und Problemen mehr als bezahlt machen. Neben dem Abbau von Systemfehlern und Ineffizienz wird auch die Burnout-Rate gerade der fähigen und engagierten Mitarbeiter nachhaltig abgesenkt. Zu den Zugewinnen des organisationalen Lernens gehören auch der Anstieg der Kundenzufriedenheit sowie der allgemeinen Arbeitsqualität.
Die genannten Bedingungen können auch für Teams optimale Voraussetzungen schaffen, um unter Zeit- und Kostendruck langfristig hohe Qualität zu leisten und optimale Projektergebnisse sicher zu stellen.
1 Edmondson, Amy und Tucker, Anita (2003): „Why Hospitals don`t learn from failures“, in „California Management Review“, Vol. 45, No.2, S. 55 - 72